|
Das Weltall im Zeitraffer
von Peter Kafka, Physiker
Was wir durch Betrachten des Weltalls herausgefunden haben, gibt ein
zusammenhängend erscheinendes Bild mit vielen, wenn auch noch nicht völlig
verstandenen Einzelheiten. Wird dieses Bild sich im grossen und ganzen als
sinnvoll erweisen - oder wird man schon bald umdenken müssen, weil neuere
und verfeinerte Beobachtungen damit im Widerspruch sind?
Bei der Beschreibung der Geschichte des Weltalls hat man schon öfters zum
Hilfsmittel eines Zeitrafferbildes gegriffen. Drängen wir die Geschichte des
Universums auf ein Jahr zusammen. Stellen wir uns vor, es ist
Silvesternacht, und wir erwarten den Gong, der das neue Jahr ankündigt....
Vor genau einem Jahr war alles, was wir jetzt vom Universum sehen, ganz
dicht bei uns, vielleicht in einem einzigen Punkt. Der Urstoff, eine
Strahlung, die den ganzen Raum gleichmässig und mit ungeheurerer Dichte und
Temperatur erfüllte, besass noch keinerlei Struktur, aber durch den Schwung
der geheimnisvollen Urexplosion dehnt er sich seither überall gegen seine
Schwerkraft aus und kühlt sich ab. Nun erzwingen die Naturgesetze - was
immer das ist - die Entstehung und Entwicklung von Strukturen. Schon in
einem winzigen Bruchteil der ersten Sekunde des ersten Januar entsteht die
Materie: Elementarteilchen, gleich darauf die einfachsten Atomkerne,
Wasserstoff und Helium. Bei der weiteren Ausdehnung und Abkühlung nimmt die
Dichte dieser Materie langsamer ab als die der Strahlung. So gewinnt
irgendwann am 1. oder 2. Januar die Materie Oberhand. Erst als die
Temperatur unter einige tausend Grad gesunken ist, beginnt die Materie unter
ihrer eigenen Schwerkraft Klumpen zu bilden. So entstehen noch vor Ende
Januar die Galaxien und in diesen die ersten Sterngenerationen. Kafka
beschreibt dann, wie in den Sternen die schweren Elemente gebildet werden,
von Sterngenerationen, die unserer Sonne vorangegangen sind.
Nun ist schon mehr als das halbe Jahr vergangen, da ballt sich Mitte August
aus einer zusammenstürzenden Wolke von Gas und Staub unser Sonnensystem.
Schon nach einem Tag ist die Sonne in ihrem heutigen Zustand und versorgt
ihre Planeten, mit einem ziemlich konstanten Strahlungsstrom.
Nun ist die Möglichkeit zur Entstehung primitiven Lebens auf der Erde
gegeben. Bereits ab Anfang Oktober finden wir fossile Algen, und im Laufe
von zwei Monaten entsteht nun in den Gewässern eine riesige Artenvielfalt
von Pflanzen und Tieren. Die ersten Wirbeltierfossilien stammen vom 16.
Dezember. Am 19. erobern die Wanzen die Kontinente. Am 20. Dezember sind die
Landmassen mit Wald bedeckt. Das Leben schafft sich selbst eine
sauerstoffreiche Atmosphäre. Das ultraviolette Licht wird zurückgehalten, So
werden noch komplexere und empfindlichere Formen des Lebens möglich. Am 22.
Dezember, während sich unsere Steinkohlenlager bilden, entstehen aus
Lungenfischen amphibische Vierfüssler und erobern feuchtes Land. Aus ihnen
entwickeln sich am 24. Dezember die Reptilien, die auch das trockene Land
besiedeln. Am 25. Dezember wird das warme Blut erfunden. Spätabends
erscheinen die ersten Säugetiere, aber für die nächsten zwei Tage führen sie
noch ein Kümmerdasein neben den Sauriern. Verborgen in Nischen wird die
Intelligenz vorbereitet. Am 27. Dezember entwickeln sich aus den Reptilien
auch die Vögel und übernehmen am 28. und 29. gemeinsam mit den Säugetieren
die Macht von den aussterbenden Drachen. In der Nacht zum 30. Dezember
beginnt, die noch heute andauernde (Erdbebengürtel) Auffaltung des Gebirges.
Bis jetzt ist die biologische Information stets in den so genannten Genen,
das heisst in Nukleinsäuremolekülen gespeichert. Erst ab 30. Dezember wird
die Speicherung in grösseren Eiweissstrukturen der Gehirne benutzt, um über
diese genetische Fixierung wesentlich hinauszugehen. Die
Verflechtungsmöglichkeit von Neutronen im Gehirn bietet dem Drang nach
Komplexität neue Ausdrucksmittel. Das Lernen wird wichtig, Seele und Geist
können sich entwickeln. In der Nacht zum 31. Dezember, vergangene Nacht,
entspringt der Menschenzweig dem Ast, der zu den heutigen Menschenaffen
führt. Nun bleibt uns ein Tag, um uns selbst zu entwickeln. Mit etwa zwanzig
Generationen pro Sekunde scheint dies nicht schwierig. Aber unser Werdegang
ist dürftig dokumentiert. Erst von etwa zehn Uhr am Silvesterabend stammen
die Skelettreste in der lduwaischlucht, (Tansania, mehr als 3,5 Mio. Jahre
alte Funde der Gattung Homo und ca. 2 Mio. Jahre alte Fund des Homo
erectus). Fünf Minuten vor zwölf leben die Neandertaler; ihre Gehirne sind
schon vergleichbar mit den unsrigen. Zwei Minuten vor zwölf sitzen wir ums
Feuer, stammeln, winseln, klatschen rhythmisch in die Hände, bemalen die
Wände unserer Höhlen mit Bildern unserer Beutetiere und tun Waffen oder
Honig und Körner in die Gräber unserer Väter. Die Blütezeit der Sprachen,
und damit der Kulturen, bricht an. Seit fünfzehn Sekunden wird die
Geschichte Chinas und Ägyptens überliefert. Fünf Sekunden vor zwölf wird
Jesus Christus geboren. Eine Sekunde vor zwölf beginnen die Christen mit der
Ausrottung der amerikanischen Kulturen. Oh - da ist schon der Gong – wir
sind wir im neuen Jahr! Was wird es uns bringen?
So fasst Peter Kafka die Geschichte des Weltalls zusammen, vom Anfang bis
heute. Warum und wozu lief alles so ab? Wahrscheinlich ist diese Frage
ebenso sinnlos wie die nach dem Davor. Denn nach Ursache, Sinn und Zweck zu
fragen, haben wir uns im täglichen Leben angewöhnt. Was diese Begriffe für
das Weltall als Ganzes bedeuten, ist unklar. Mit Hilfe der Naturgesetze
gelang es uns, die Vorgänge der materiellen Welt für unser Gehirn etwas
plausibler, gelegentlich sogar vorhersagbar zu machen. Verstanden - was
immer das bedeutet - haben wir sie nicht. Für das, was es über die
materielle Welt hinaus noch gibt, dafür ist unser naturwissenschaftliches
Gedankenwerkzeug zu grobschlächtig.
So kann die moderne Wissenschaft Fragen, die sich unserem Denken immer
wieder aufdrängen, nicht beantworten. Seien sie sinnlos und in sich
vielleicht nicht logisch, die Fragen sind schon immer da gewesen. Wir wissen
auch heute nicht, was wir Angelus Silesius (1624-1677) antworten sollen,
wenn er in Worten ratlos schreibt:
Ich bin, ich weiss nicht wer.
Ich komme, ich weiss nicht woher.
Ich gehe, ich weiss nicht wohin.
Mich wundert’s, dass ich so fröhlich bin.
|