Sinnfrage des Lebens
Vortrag von Dr. Beat Imhof

„Was hätte ich alles machen, was hätte ich alles hervorbringen können, wenn nicht diese unvorstellbare, enorme Müdigkeit gewesen wäre, die seit ungefähr fünfzehn Jahren oder vielleicht noch viel länger auf mir lastet. Eine Müdigkeit, die mir das Arbeiten, aber auch das Ausruhen verwehrt, die mich das Leben nicht geniessen lässt, die mich hindert, mich zu freuen, mich zu entspannen, und die es mir unmöglich macht, mich mehr den anderen zuzuwenden, so wie ich es gerne gewollt hätte, statt mein eigener Gefangener zu sein, Gefangener meiner Müdigkeit, dieser Last, dieser Bürde, die die Bürde meiner selbst ist...." So beklagt sich Eugène Ionesco in seinem Tagebuch.(1). Kein Arzt unter den dreissig oder vierzig, die er aufgesucht hatte, konnte ihm helfen, keiner verstand es, ihn von seiner unendlichen Mattigkeit zu heilen. Schliesslich findet er die Ursache seines Leidens: es ist die nagende, verzweifelte Frage "wozu", es ist die Klage über die Sinnlosigkeit seines Lebens.

Vielen unter uns geht es ähnlich. Wenn die Schatten unserer Lebensjahre länger werden, spätestens um die Mitte des Lebens zwischen dem 36. und 49. Lebensjahr, kommt es häufig zu einer eigentlichen Sinnkrise, und es stellt sich ernsthaft die Sinnfrage des Lebens: Was hat das Ganze für einen Zweck, wozu der ganze Spuk?

Diese "midlife-krisis" ist zumeist bedingt durch tiefgreifende Veränderungen in der persönlichen, familiären und sozialen Lebenssituation. Die Kinder sind flügge geworden und ausgezogen. Manche Mutter leidet darunter, dass niemand mehr durchs Haus rennt und durch tausend kleine Dinge ihr beweisen, dass sie lebensnotwendig ist. Auch die Väter erfahren, dass sie von ihren Söhnen und Töchtern nicht mehr so gefragt sind, vielleicht nur noch als Geldgeber und auch beruflich und gesellschaftlich werden sie von Jüngeren überrundet. So kommt es zum "Empty-Nest-Syndrom", welches jene leidend macht, die im leeren Nest zurückbleiben. Da stellen sich leicht Verstimmungen ein und ein Gefühl der Leere und Vereinsamung, ja der Verlassenheit und sogar der Sinnlosigkeit, welche zusammen mit altersbedingten körperlichen und seelischen Veränderungen zu einem eigentlichen Lebensüberdruss werden können. Die Zahl der Depressionen ist beträchtlich in diesem Alter, bei Frauen dreimal häufiger als bei Männern. Nun ist es notwendig, mit sich ins Reine zu kommen. Grenzpfähle müssen vielleicht zurück gesteckt werden und für einen sinnvollen Neubeginn ist es noch nicht zu spät.

Wer aber jetzt den Rank nicht findet, der wird vermutlich plan- und ziellos immer mehr in die auswegslose Öde eines sinnentleerten Alters hineinschlittern. Sinnfindung und Selbstfindung sind die wesentlichen Leistungen, die der Mensch nach der Lebenswende zu erbringen hat. "Ein sinnvolles Leben wird keinem geschenkt, wir müssen es suchen und erarbeiten", schrieb Jean Musard und Hermann Hesse meinte: "Das Leben hat nur einen Sinn, insofern wir ihm einen Sinn geben." Demgegenüber behauptete Sigmund Freud: „Im Moment, da man nach Sinn und Wert des Lebens fragt, ist man krank, denn beide gibt es ja in objektiver Weise nicht, man hat nur eingestanden, dass man einen Vorrat von unbefriedigter Libido hat.“

In der Jugend stellt sich die Sinnfrage wohl unter einem anderen Gesichtspunkt als im Alter. Wer das ganze Leben noch vor sich sieht, der schaut voraus. Gemäss einer Meinungsumfrage unter Schweizer Jugendlichen die durchgeführt wurde, soll für unsere Jugend Erfolg, Geld und Luxus das Mass aller Dinge sein. Diese Aussage scheint mir zu wenig seriös. Zutreffender sind wohl die Befunde des Instituts Allensbach in Deutschland. Auf die Frage nach dem Sinn des Lebens gaben 43 Prozent an, sie möchten etwas leisten und es zu etwas bringen, während 57 Prozent den Lebenssinn darin sehen, glücklich zu sein und möglichst viel Freude zu haben (3). An 48 Hochschulen der USA wollen 78 Prozent der befragten Studenten ihrem Leben einen Sinn geben und l6 Prozent wünschen sich hierzu Lebenserfolg und Geldverdienen.

Wer mit fünfzig und sechzig immer noch den gleichen Wertvorstellungen nachlebt wie in seiner Jugendzeit, der ist irgendwie ein Kindskopf geblieben und eben noch "kein bisschen weise". Dabei wäre die Weisheit die grosse Attraktion des Alters gegenüber der jugendlichen Unerfahrenheit. Doch weise ist, wer weiss, woher er kommt, wohin er geht und wozu er hier ist. Nun könnte man meinen, diese Frage sei schon längst geklärt. Mit Albert Camuz möchte ich sagen: "Darüber urteilen, ob das Leben der Mühe wert ist gelebt zu werden oder nicht, heisst auf die fundamentalste Frage der Philosophie antworten." Also fragen wir die Philosophen; doch welch traurige Auskunft habe ich da gefunden: Sophokles war der Ansicht: "Das Beste für den Menschen wäre, nicht geboren zu werden. Das Zweitbeste, nach der Geburt möglichst bald zu sterben." Dem gleichen Pessimismus verfiel Arthur Schopenhauer: "Als Sinn unseres Lebens ist in der Tat nichts anderes anzugeben, als die Erkenntnis, dass wir besser nicht da wären." Oswald Spengler, der Verfasser des berühmten Buches "Der Untergang des Abendlandes" schrieb: „Der Mensch hat keinen Sinn, er wächst in einer erhabenen Zwecklosigkeit auf wie die Blumen auf den Feldern." Jean Paul Sartre schliesslich meint, das Leben habe von vornherein keinen Sinn, da "der Mensch einer zufälligen Laune der Natur entsprungen, sinnlos zu Bewusstheit und Freiheit verdammt ins Dasein geworfen, sich selbst zum Ekel geworden und letztlich als völlig überflüssig in dieser Welt nicht mehr ist als ein sinnloses „Zuviel“. Auch die Naturwissenschaftler vermögen uns wenig Erfreuliches zu sagen auf die Sinnfrage des Lebens. Ergreifend ist, was Pascal fast verzweifeln lässt: "Ich sehe das stumme All und den Menschen ohne Licht, sich selbst hingegeben und wie verirrt in diesen Winkel des Alls, ohne Wissen, wer ihn hineingestellt, wozu er da ist, was er im Tode wird, aller Erkenntnis bar. Ich erschrecke wie ein Mensch, den man im Schlaf auf eine öde, einsame Insel versetzt und der erwacht, ohne zu wissen, wo er ist, ohne Macht zu entweichen." Der grosse Naturforscher Alexander von Humboldt sah sich in einer ähnlichen Ausweglosigkeit: "Das ganze Leben ist der grösste Unsinn. Wüssten wir wenigstens, warum wir auf der Welt sind. Aber das bleibt dem Denker ein Rätsel, und das grösste Glück wäre noch, als Flachkopf geboren zu werden." Selbst Albert Einstein, dem religiöse Vorstellungen nicht fremd waren, kam am Ende seines Lebens zu dem Schluss: "Seltsam ist unsere Lage hier auf dieser Erde. Ein jeder kommt hierher, ungebeten und ungerufen zu kurzem Aufenthalt, ohne zu wissen warum und wozu.“

Gültige Antworten auf die Sinnfrage des Lebens habe ich bei den uralten Weisheitslehren gefunden, denen wir heute unter dem Kennwort "Esoterik" begegnen. Danach ist das Leben sinnvoll, wenn es sich auf seine wahre und letzte Bestimmung hin entfaltet. Mit der nachfolgenden symbolischen Geschichte von Gabriele Unkelbach möchte ich erklären, was hier gemeint ist: "Es kam der Tag, da sagte das Zündholz zur Kerze: "Ich habe den Auftrag dich anzuzünden.“ "0h nein", erschrak die Kerze, "nur das nicht. Wenn ich brenne, sind meine Tage gezählt. Niemand mehr wird meine Schönheit bewundern." - Das Zündholz fragte: "Aber willst du denn ein Leben lang kalt und hart bleiben, ohne zuvor gelebt zu haben?" - "Aber brennen tut doch weh und zehrt an meinen Kräften", flüsterte die Kerze unsicher und voller Angst. - "Es ist wahr", entgegnete das Zündholz. "Aber das ist doch das Geheimnis unserer Berufung: wir sind berufen, Licht zu sein. Was ich tun kann, ist wenig. Zünde ich dich aber nicht an, so verpasse ich den Sinn meines Lebens. Ich bin dafür da, Feuer zu entfachen. Du bist eine Kerze. Du sollst für andere leuchten und Wärme schenken. Alles, was du an Schmerz und Leid und Kraft hingibst, wird verwandelt in Licht. Du gehst nicht verloren, wenn du dich verzehrst. Andere werden dein Feuer weitertragen. Nur wenn du dich versagst, wirst du sterben." - Da spitzte die Kerze ihren Docht und sprach voller Erwartung: "Ich bitte dich, zünde mich an!"

So ist es auch mit uns Menschen. Da wir eigentlich geistige Wesen sind und nur vorübergehend hier in dieser stofflichen Welt, gehört es zu unserer Bestimmung, geistiges Licht zu sein, als dessen ich zwei wesentliche Eigenschaften, die Wärme mitmenschlicher Liebe und die Helligkeit höherer Erkenntnis nennen möchte. Den Nächsten lieben wie sich selbst und die ewig gültigen göttlichen Gesetze erkennen, die das ganze Weltall durchwallen, ist die einzige Voraussetzung, damit wir wieder das werden, was wir einstmals waren: liebeerfüllte Lichtwesen in einer himmlischen Lichtwelt. Um dieses Ziel zu erreichen stehen uns zwei Wege offen: der Weg des Lernens und der Weg des Leidens. Beide können uns zur Vergeistigung führen, die als der tiefere Sinn unseres Erdenlebens genannt werden können. Oder, um ein Wort von Karl Graf Dürkheim zu gebrauchen: "Zeuge des Übermenschlichen in der Welt zu sein, kann man als den Sinn des Lebens bezeichnen."

Als den letzten Sinn unseres Daseins wird man aus esoterischer Sicht genau das angeben, was Plato in "Phaidon" als das Ziel der Mysterien von Eleysis nannte, nämlich die Geistseele in ihre ursprüngliche Reinheit zurückzubringen, in den Zustand der Vollkommenheit, den sie verloren hat.

So sehe ich in allem Werden und Walten in Natur und Übernatur einen eindeutigen Trend hin zur Vergeistigung und Bewusstseinserweiterung. Nichts wäre falscher und verhängnisvoller als zu glauben, die Menschen würden immer schlechter und unsere Erde werde bald einmal ein unbewohnbarer Planet sein. Was so verheissungsvoll begann vor ein paar wenigen Millionen Jahren, kann unmöglich so verhängnisvoll in einem allzu frühen Fiasko enden. Ich halte es da mit Rudolf Steiner, der überzeugt war: "Nicht nur der Mensch strebt, die ganze Natur strebt, das ganze Universum strebt von Vollkommenheitsstufe zu Vollkommenheitsstufe." Aber eben, es braucht seine Zeit. Lernen wir in grossen Zeiträumen denken, wenn möglich in Jahrhunderten und in Jahrtausenden. Alles andere ist kleinmaschige und kleinkarierte Schau. Der einzelne Mensch ist Lebensträger und Lichtträger auf dem Weg zu dieser letzten Sinngebung. So gesehen dürfen wir auch alle Zuversicht haben, dass mit jedem guten Gedanken und mit jeder liebenden Gesinnung es wärmer und heller wird in unserem Universum, womit sich in allen Wesen der ewige Ursinn des Göttlichen entfaltet und alles zurück zur grossen, ursprünglichen Einheit führt.

Denn eines Tages
wird sich erheben der Stein, um Pflanze zu werden,
wird sich erheben die Pflanze um Tier zu werden,
wird sich erheben das Tier um Mensch zu werden,
wird sich erheben der Mensch, um wieder Engel zu werden,
eines Tages .........

Literaturhinweise:
1. Ionescu, Tagebuch. Darmstadt Neuwied 1970, Seite.145.
2. Umfrage Markt- und Kommunikationsforschung Zürich, in „Wir Brückenbauer“
3. „Vaterland", Nr.12, 1985, Seite 3
4. Frankl, Die Sinnfrage in der Psychotherapie. Graz 1978, Seite
 

 

 
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